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Cuxhaven in der Literatur

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Ein Berliner Gassenhauer

Quelle Richter, Lukas: Der Berliner Gassenhauer. Darstellung – Dokumente – Sammlung.
Hrsg. vom Deutschen Volksliedarchiv. Münster/New York/München/Berlin 2004. (Volksliedstudien, Band 4).
ISBN 3-8309-1350-8

Genehmigung

Waxmann Verlag GmbH



Boy-Ed, Ida

Vor der Ehe

Als man sich der Landungsbrücke näherte, der weltberühmten »Alten Liebe« von Cuxhaven – dieser Stätte, an welcher der Völkerverkehr vorbeiflutet – die den Schmerz der Ausreisenden und die Wonne der Heimkehrenden kannte, die alle Hoffnungen und alle Enttäuschungen auf ihren Balken hatte flüstern und weinen hören


Fock, Gorch

Seefahrt ist not

- Zehnter Stremel -

Es gab noch die Schanze zu sehen mit den schwarzen Kanonenschlünden, die die Elbe bewachten, das Ostefeuerschiff , das an seinen Ketten riß, die Türme von Altenbruch; dann kam Cuxhaven in Sicht, der dicke Leuchtturm, die Kugelbake. Da sah Störtebeker zum erstenmal ein großes Schiff, eine Bark, unter Rahsegeln. Sein Vater wies ihm den alten und den neuen Hafen, die großen Seeschlepper, die mächtigen Anker, die am Deich standen, das Schloß Ritzebüttel, das klug und geborgen aus den Bäumen lugte, er zeigte ihm einen Seehund, der hinter dem Ewer auftauchte, und drei Masten, die im Norden kahl und verlassen aus der See ragten.

Störtebeker wurde doch stiller, als er das Land kleiner und die See größer werden sah, als er wahrnahm, daß der Ewer ungestümer auf und ab tauchte und sich schräger legte als vorher, aber er hielt tapfer aus und ließ sich nichts anmerken.

Es gab kein Halten mehr für den großen Ewer: Mit dem flagigen [Fußnote] [böigen], starken Südwestwind in den Segeln brauste er mächtig einher und schnitt eine breite, schaumige Furche wie ein rechter Pflüger. Noch trug er die Segel ohne Reff, aber die Luft schmierte zu, dunkle Wolken beschatteten die See, und auf den Watten räucherte die Brandung. Mit breiten, langen Kämmen kam die Flut ihnen entgegen, aber diesmal wurde der Ewer Baas über sie, denn er hatte Wind und ließ sich von ihr nicht mehr aufhalten. Sie segelten an der Kugelbake vorbei, der großen Frau der Elbmündung, die immerfort nach ihrem Mann sucht, der doch längst geblieben ist, und nahmen Kurs nach dem vierten Feuerschiff, Nord zu West.

Bald verlangte den Südwest nach Südwestern; er brachte Regen und jagte die Seefischer ins Ölzeug. Auch Störtebeker mußte hinein. Als sein Vater ihm den Rock zuknöpfte, sah er ihn forschend an und bemerkte, daß das Gesicht schon etwas blasser geworden war; er tat aber, als hätte er nichts gesehen. Dem Knecht und dem Jungen hatte er untersagt, mit der Seekrankheit zu drohen und Störtebeker bange zu machen. So gedachte er, ihn am besten davor zu bewahren.

Heiter wies er ihm den dicken Turm von Neuwerk und erzählte, daß Störtebeker von dort einen Gang unterm Wasser bis nach Cuxhaven gehabt hätte.


Nach dem Sturm

- Unser Ewer -

Es war der Ewer.

Ja, er war es und warm lief es mir über die Backen, als ich ihn wiedersah, so abgerupft und abgetakelt, abgewrackt und haveriert, so kläglich und erbärmlich wiedersah, meinen Ewer, den ich die Nacht zuvor im Traum noch groß und machtvoll in der unsagbaren Schönheit des Segelfahrzeuges mit allen braunen Lappen auf der weiten Nordsee dümpeln und kreuzen gesehen hatte.

Entmastet und abgeschlachtet lag er im schmalen, seichten Schlickgraben, der sich sonst an den Fischerbrücken von Altona und St. Pauli, an den Kajen von Geestemünde und Bremerhaven, an der Schlachte von Bremen, an der Alten Liebe von Cuxhaven, auf der Reede von Helgoland und auf den Schallen von Finkenwärder gesonnt und wohlgefühlt hatte.

Was da sonst noch herumliegen und umherstehen mochte, durften Bäume oder Schiffe sein. Ich bemerkte sie nicht. Alles verging vor dem Ewer. Ich sah nur ihn und sein trauriges Schicksal.


- Hans Otto -

Die Kugelbake vor Cuxhaven ist die große Nebelfrau der Elbmündung. Wer sie einmal bei Daak und Dunst über die Watten starren gesehen hat, weiß das. Vordem stand dort bei Nebel und trüber Luft eine Fischersfrau von Döse, ein armes, irres Weib, das ihren verschollenen Mann auf der See suchte; jahrelang hat sie dort gestanden, alle alten Schiffer haben sie gesehen, – bis die riesige Bake sie ablöste.


Frapan, Ilse

Zwischen Elbe und Alster

- Die Last -

Es war drei Uhr, als der Schaffner: »Cuxhaven, Alles aussteigen,« in die Wagen hineinrief. Der Zug hielt am Hafen, und der Wind war so stark, daß er das bloße Verlassen der Wagen zu einer Kraftanstrengung für die Reisenden machte. Ueber Nacht war es noch ärger gewesen, – Ziegelscherben und zerbrochene Aeste lagen auf dem Pflaster, und Sand und Seegras war an den Treppen und in den Winkeln zusammengewirbelt und aufgehäuft worden, um jeden Augenblick von Neuem zerwühlt und in die Luft gestreut zu werden. Der Schornstein einer großen Fabrik war gegen Morgen heruntergestürzt und hatte fertige und halbfertige Kähne der anstoßenden Werft zerschlagen. Die Straße dort war gesperrt, und große Theile des Schlots lagen noch am Boden, während andere weggeräumt wurden. Klefecker sah zum ersten Male den öden Strand, den die wilde Nordsee bespült. Der Hafen erschien ihm klein gegen den von Hamburg, aber in den weißgeflügelten Segelschiffen zuckte der Sturm ganz anders und schien sie mit selbständigem Leben zu erfüllen, als wollten sie mit ihm in die Weite flattern. Und nun erst links hinaus, am Fuß des vogelumkreischten, knarrenden, bebenden Leuchtturms! War denn das Wasser? diese schwarzen undurchsichtigen Berge und Thäler, die aufstiegen, als wollten sie das Land verschlucken und den Himmel einstoßen? Und nun ward ein Thal, wo eben ein Berg war, und nun ward das Thal wieder zum Berge. Es war schwer, darauf hinzusehen und das Gleichgewicht zu behalten; es war schwer, sich zu erinnern, daß der Boden fest stand. Hinter Vorsprüngen der Mauern und in den Thüren standen die Leute aus der Stadt und klammerten sich fest mit einer Hand, um mit schwindelnden Augen durch das Glas hinauszusehen. Alle Stimmen waren verschlungen von der einen übergewaltigen; alle Blicke hatten ein Ziel, alle Seelen ein Interesse; auf allen Gesichtern lag die Nähe eines furchtbar lebendigen Ungeheuers, das nach Fraß brüllt. – Noch schwärzer als die dunklen Wellen stand das Bollwerk der »Alten Liebe« da, wie das rostige Geripp eines Walfisches. Der Himmel wechselte wie das Meer; bald war er lichter, bald dunkler und voll jenes trüben gelben Rauches, den der nordische Meergott aus seiner Pfeife qualmt. Manchmal zerriß ein Kanonenschlag die Sturmorgelklänge, oder das Nebelhorn heulte seine ängstliche Warnung über die Wellen.

Der Flüchtling mußte sich an den Hausmauern zurückfühlen in die Straßen; Mädchen und Frauen gingen truppweise, um nicht über den Haufen geblasen zu werden, und warfen furchtsame Blicke nach den Dächern. Als ihn der Sturm mit einem Matrosen zufällig in eine Ecke zusammentrieb, faßte er sich ein Herz zu der Frage, ob heut ein Schiff auslaufe. Ja, aber nur eins, ein Kohlenschiff nach Hull; der Kapitän sei gerade in die Wirthschaft dort gegangen, den solle er nur fragen.

Klefecker's Gemüth flog auf wie ein Vogel. Er trat in das bezeichnete Speisehaus, das in diesem Augenblicke nur einen einzigen Gast beherbergte. Der Kapitän, ein untersetzter, fremd aussehender Mann, saß vor einer dampfenden Kohlschüssel und schob von Zeit zu Zeit seinen mächtigen schwarzen Bart bei Seite, damit er ihm nicht den Teller abfege. Klefecker fühlte plötzlich Hunger; er bestellte sich was Warmes und brachte dann sein Anliegen vor.

Ja, der Kapitän konnte einen Passagier aufnehmen, zwei nicht so gut, aber es würde vielleicht auch gehen. Er hatte schon gestern Nacht fort wollen, war aber des Wetters wegen immer noch hier; nun mußte man heute Abend sehen ... eine feste Zeit konnte nicht ausgemacht werden, wenn es so beiblieb.

Das war wenig für Einen, unter dem der Boden brennt.

Die Wirthin brachte ihm seinen Kohl mit Hammelfleisch, wie er's bestellt hatte. Es roch appetitlich, aber die Speisen würgten ihn. Der Kapitän stand auf und schob ihm beim Hinausgehen die Zeitungen zu. Gleich der erste Blick fiel auf eine großgedruckte Anzeige, die eine halbe Seite einnahm:

»Zweitausend Mark Belohnung Demjenigen, welcher mir über den Verbleib meines, seit dem 28. Februar d. J. verschwundenen Neffen, des Maschinisten Leopold Jäck, irgend welche zuverlässige Nachricht mitzutheilen hat.

Kaspar Dogel, Rentier. Pirna in Sachsen.«

Es flimmerte und flammte ihm vor den Augen; sein Gesicht wurde kalt. Da hörte er auf einmal hinter sich eine laute Stimme dieselbe Anzeige herunterlesen. Hätte er nur den Kopf nicht gedreht. Aber es war, als reiße ihm Einer das Gesicht herum, und seine Augen trafen in die des Hafenofficianten, der das Blatt in der Hand hielt und eben der Wirthin die Bekanntmachung vorgelesen hatte. Er schlug mit der flachen Hand auf die Zeitung: »Ja, der wird noch immer gesucht.«

»Er hat woll die Kasse mitgenommen, daß sie so achter ihm her sünd,« sagte die Wirthin schläfrig.

»Nee, dat is nich wohr,« rief eine hastige heisere Stimme, die jäh abbrach. Wer hatte ihn gefragt? Glühend roth beugte sich Klefecker auf sein kaltgewordenes Essen; er rührte darin und konnte doch nichts schlucken; der Officiant war horchend näher getreten.

»So, Sie kennen ihn persönlich?« fragte er obenhin, aber mit den Augen schien er viel mehr zu sagen.

»Wen?«

»Den Verschwundenen, den Jäck?«

»Nee, den kenn ick nich;« der Ton war ziemlich gefaßt, aber die Stimme zitterte etwas.

Der Officiant nahm einen Stuhl ihm gegenüber und blickte ihm unverwandt ins Gesicht.

»Aber Sie behaupteten doch eben« –

»Ick hew blot seggt, wat ick lest hew,« – es ging schon leichter von der Zunge.

»Sie wollen woll nach drüben?« warf der Polizist so hin.

»Ja, ick denk so.«

»Von Hamburg ist da bessere Gelegenheit zu,« fuhr der Frager fort und zog die dicken Handschuhe aus, um das Glas Grog bequemer anfassen zu können, das vor ihm dampfte. »Sie haben sich da einen großen Umweg gemacht.« Der röthliche steife Schnurrbart zuckte unmerklich, so daß die kurzen Spitzen schräg standen. Die rothen Streifen über den Augen, Brauen waren nicht da, zogen sich spähend zusammen, sogar die großen Ohrmuscheln reckten sich etwas, um die Antwort zu hören.

Aber es kam keine. Der Flüchtling schwieg im Gefühl seiner gänzlichen Hülflosigkeit, er maß die Entfernung bis zur Thür wie ein gefangenes Wild und fühlte in die Tasche nach seinem Messer.

Der Officiant lehnte sich gemächlich zurück.

»Ihre Papiere sind jedenfalls in Ordnung? Wenn man auf solch' eine Reise geht –«

Klefecker ließ das Messer fahren und griff nach der Reisetasche; es war freilich Alles da; er hatte bei der Erbschaftssache genug Laufereien deshalb gethan. Nur sein Arbeitsbuch war in der Fabrik zurückgeblieben.

Der Andere sah diese Bereitwilligkeit mit einer Enttäuschung, die er kaum verbarg.

»Lassen Sie nur; wir haben ja noch Zeit bis zur Abfahrt; Kapitän Hammer kommt heut' noch nicht hinaus,« sagte er abwinkend; »na und Sie haben wohl auch keine Eile?« Das erwartete Zusammenschrecken war nicht ausgeblieben. Der Officiant sah fast dankbar aus. »Am Ende haben Sie doch Eile hier fortzukommen?« sagte er wohlwollend.

Klefecker sprang auf, nahm seine Sachen zusammen und ging an den Schenktisch, um zu bezahlen. Er hätte sich mit dem Messer auf den Polizisten stürzen müssen, wäre er noch eine Minute länger hier geblieben. Und sollte denn Alles entdeckt, sollte er denn gefangen sein, nur nicht von dem, nur von dem nicht, brannte es in ihm.

Auch der Quäler war aufgestanden.

»Wenn Sie schon gehen, möchte ich allerdings um Ihre Papiere bitten,« sagte er, lächelnd über seine eigene Höflichkeit.

Da wurde heftig die Thür aufgerissen. Ein halbwüchsiger Bursche stürmte herein. »Mutter, 'n Boot draußen vor der Alten Liebe; es kann alle Augenblick in Stücke gehn!«

Er ließ die Thür hinter sich offen und rannte hinaus, – der Officiant warf einen kurzen sicheren Blick auf Klefecker, dann lief auch er fort; – Klefecker folgte; die Wirthin riß eine Wachstuchdecke von einem Tische, wickelte sich hinein und watschelte den Männern nach. Die Leute liefen alle nach einer Richtung, dem Leuchtthurm zu. Die Lampen brannten schon, aber ihr stilles rothes Licht schwamm nur in zersprengten ohnmächtigen Funken auf den rollenden Bergen und Thälern. Der Sturm hatte etwas nachgelassen, so daß man zur Noth stehen konnte, doch war das Meer noch immer so laut, daß man einander nicht hörte.

Sie standen in Reihen und Gruppen, hoben die Arme auf und suchten einander zuzuschreien, ohne Erfolg; aber die verstörten Gesichter der alten Männer, die angstvollen Mienen der Frauen, und die Kinder, die weinten und schrieen über den Tumult, den sie nicht begriffen, sprachen verständlich genug.

Klefecker drängte sich in einen dichten Haufen; Kapitän Hammer stand auch darin. Er reichte ihm das Glas und führte seine Hand nach der Richtung.

Ja, da sah er es, gar nicht fern; wie ein weißes Papierblatt, bald hinauf-, bald herabgeschleudert, tanzte das Boot, die Segel hoch, auf das alte Bollwerk los, – was hatte es nur dort verloren? Warum waren die Segel nicht eingezogen?

»Dat mut Jan Stubbe sin,« hörte er Einen dem Andern ins Ohr schreien.

»Ja, dat is he!«

»Wenn dat man god geiht!«

»Dat geiht min Dag nich god.«

Ein lauter Schrei gellte vom Strande auf. Die wild am Bord hin- und herspringende Gestalt hatte nun endlich das Segel halb gerefft, da entriß es der Sturm den erschlafften oder unkundigen Händen, griff in die losgebundene Leinwand und drehte das Boot in rasendem Wirbel um sich selbst.

»He is wedder duhn!« rief es.

»He is dat nich, dat is blot sin Jung; Jan is ja 'n grooten schieren Kerl, is Jan.«

»Ick segg Di, he is vull.«

»Und ick segg Di, Jan Stubbe is gor nich an Bord, segg ick Di.«

Ein neuer Schrei unterbrach den Streit; die Segelstange war zersplittert; das Segel hing halb im Wasser, das Drehen des Bootes hörte auf; es neigte sich auf die Seite.

Ein Mann neben Klefecker rief:

»Wie möt em rinhalen, Jungens; wer will mit?«

»He is duhn!« rief es dagegen.

»'t is ja blot de Jung!« schrie ein Dritter.

Der alte Fischer, der zuerst gerufen hatte, begann wieder: »Un wenn 't ok Jan Stubbe sülwst is, sall de Mann vor unse Ogen versupen?«

Das trockene braune Gesicht des Sprechers blickte ernsthaft und vertrauensvoll von Einem zum Andern.

»Sünd Ji nich ok all mal duhn west? Wer kann hier seggen: ick nich?« –

Die hellen muthigen Augen trafen Klefecker, die dringliche mahnende Stimme fuhr ihm durchs Herz. Da war es ihm, als höbe sich der furchtbare Sack von seiner Schulter. Es ging wie ein Zurechtrücken durch seinen Körper. Er warf die Tasche, die er noch immer trug, dem Nächststehenden zu.

»Ick!« schrie er überlaut.

Weiter nichts, aber sie verstanden es Alle. Im Handumdrehen waren sie vollzählig, vier Mann, lauter Fischer, wie der erste, starke Männer mit gefaßten Gesichtern. Wie er als fünfter mit ihnen die Landungsbrücke entlang lief, ins Boot sprang, sein Ruder ergriff und mit ganzer Armkraft in das Wasser stieß, das zäh' wie Blei sich ihm entgegenstemmte, ging ein Schein über sein Gesicht, als lebe er von Neuem auf.

»Man irrt sich doch manchmal,« sagte der Hafenofficiant zu der Wirthin, »ich hatte gedacht – – und nu sehn Sie, wie der Kerl zieht.«

Es war ein saures Stück Arbeit, dies Kämpfen gegen Strom und Sturm in dem schwachen Boot. Mit schmerzenden Armen und triefenden Gesichtern, wortlos, die Augen hinausgerichtet, dem bedrängten, jetzt vor ihnen verdeckten Fischerboote zu, pflügten sich die Ruderer vorwärts. Die genaue Kenntniß des Wassers leitete sie. Und mitten in diesem Kampf, in dieser Anspannung aller Kräfte erblickte der Flüchtende plötzlich wie in einem Rahmen eine Gestalt, die auf ihn zugeschritten kam. Fern war sie, ganz fern; dennoch erkannte er das blonde Haar und die kleinen Schritte und sah ihre Röcke flattern im Sturm. Sie ging langsam, immer langsamer, einen öden Weg. Ihre thränenrothen Augen hefteten sich in seine, nicht vorwurfsvoll, aber so hülflos, so verzweifelt. Er konnte den Blick nicht ertragen, er hob das Ruder zur Abwehr. Die Gestalt zerrann, als ein Schrei, messerscharf, den Lärm des Sturmes durchschnitt. Das Boot war erreicht, sie waren zur Stelle. Es füllte sich zusehends mit Wasser, an der zweiten Segelstange hing der halbtodte Junge und schrie. Keine Möglichkeit, ihn dort weg zu bringen, durch Zeichen oder Zurufe; er mußte geholt werden. Sie brachten ihre Jolle endlich Seite an Seite mit dem andern Boot. Der alte Fischer stieg hinüber, riß die verkrampften Hände los und hielt den Knaben an sich. Klefecker ließ den Bord des andern Schiffes fahren, an dem er sich aufgerichtet hatte und stand mit gespreizten Beinen, ohne Wank, wie wüthend ihm auch das zerrissene Segel ins Gesicht peitschte, bis er den Geretteten aufgefangen und auf den Boden niedergelegt hatte. Einer der Fischer mit einem großen Schiffsmesser wollte über ihn hinwegsteigen, – Klefecker verstand seine Absicht, nahm ihm das Messer aus der Hand und bedeutete, daß er selbst hinüberklettern und die zweite Segelstange kappen wolle; das Fahrzeug war dann vielleicht noch zu retten. Auch der Alte war noch droben. Mit aller Wucht stieß Klefecker das Messer ein und sprang dann rückwärts. Aber die stürzende Stange mit der herumfahrenden Leinwand hatte ihn dennoch erreicht. Sie riß ihn über Bord und weit hinaus. Der Alte warf ihm auf der Stelle ein Seil nach. Er tauchte in einiger Entfernung wieder auf, die Hände um den Segelschaft gefaltet; das Tau glitt darüber hin und her; er griff nicht danach. Sie riefen und schrieen. Er löste die eine Hand und zeigte auf sein blutüberströmtes, aber fast fröhliches Gesicht. Dann ließ er auch die andere Hand los und versank in die Tiefe, die ihm die grause Last von den Schultern gewaschen hatte.


Jaedicke, Ernst

Deutsche Sagen

- Vineta -

An der Nordküste der Insel Usedom soll vor vielen, vielen Jahren eine große, reiche Handelsstadt mit Namen Vineta oder Venedig gelegen haben. Gewöhnlich wird erzählt, sie habe seewärts vor dem Streckelberg, und zwar an der Stelle gelegen, wo sich jetzt das sogenannte Vinetariff befindet. Die Stadt Vineta soll zur Zeit ihrer Blüte so reich und schön gewesen sein, daß sie im ganzen Küstengebiet der Ost- und Nordsee nicht ihresgleichen hatte. Die Häuser, in welchen die Leute wohnten, glichen kleinen Palästen: sie waren aus Marmor erbaut und mit vergoldeten Zinnen geschmückt. In dem Hafen befanden sich Hunderte von Schiffen, welche bis nach Archangel und Konstantinopel fuhren. Auch weilten viele fremde Kaufleute in der Stadt, um hier Waren zu kaufen oder zu verkaufen. Aber je reicher und wohlhabender die Einwohner von Vineta wurden, desto mehr fanden Stolz, Übermut, Gottlosigkeit und allerlei unheiliges Wesen bei ihnen Eingang. Zu den Mahlzeiten nahmen sie nur die auserlesensten Speisen, und den Wein tranken sie aus silbernen und goldenen Gefäßen, wie sie selbst in den Gotteshäusern nicht schöner und prächtiger zu finden waren. Die Hufe der Pferde waren statt mit Eisen vielmehr mit Silber oder gar mit Gold beschlagen. Das Brot, die herrliche Gottesgabe, mißbrauchten die Frauen in schamloser Weise, indem sie die kleinen Kinder damit reinigten. Und wie die Großen, so trieben es auch die Kleinen. Die Kügelchen, mit welchen die Kinder auf der Straße spielten, bestanden aus reinem Silber, und wenn sie über eine Wasserfläche »Butterbrot werfen« wollten, so benutzten sie dazu nichts anderes als blanke Taler.

Aber solcher Übermut sollte nicht ungestraft bleiben. In einer stürmischen Novembernacht brach das göttliche Strafgericht unvermutet über die Stadt und ihre gottlosen Bewohner herein: eine furchtbare Sturmflut wälzte ihre Wogen über die Stadt und über das Land hinweg und begrub alle Häuser und alle Menschen unter ihren Fluten; kein einziger Bewohner von Vineta entrann dem Verderben. So wurde die reiche Stadt mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit in wenigen Stunden vernichtet.

Die Trümmer der ehemaligen Stadt ruhen noch heutigen Tages auf dem Grunde des Meeres, und wenn man bei stillem, ruhigem Wetter und bei klarem Wasser über die Stätte der untergegangenen Stadt hinwegfährt, so kann man die Fundamente der Häuser, die Straßenzüge und noch viele andere Reste der einstigen Stadt in der Tiefe wahrnehmen. Einmal im Jahre wird die auf dem Meeresgrunde ruhende Stadt auch über der Oberfläche des Wassers sichtbar, indem sie sich wie ein Schatten- oder Nebelbild mit unbestimmten Umrissen zeigt; die Leute in den umliegenden Dörfern sagen: Vineta wafelt! An welchem Tage diese Erscheinung zu sehen ist, wird verschieden angegeben: Die einen sagen, es wäre am Johannistage; die andern meinen, Vineta zeige sich an demselben Jahrestage, an welchem es einst untergegangen sei, und das sei eben derselbe Tag, an welchem auch Cuxhaven durch eine Sturmflut zerstört worden sei.

Am Johannistage, mittags zwischen 11 und 12 Uhr, sollen auch die Glocken der versunkenen Stadt aus der Tiefe des Meeres heraufklingen, und manch einer will ihre Klänge schon vernommen haben. Das ist allerdings nicht ganz ungefährlich. Denn man sagt, daß der, der die Glocken von Vineta gehört hat, mit unwiderstehlicher Gewalt von der Meerestiefe angelockt wird, bis er selbst da unten ruht.


Seitel, Willy

Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen

- Licht in der Finsternis -

Im Jahr des Unheils 1915, im Frühling, erfuhr man, ein Torpedobootzerstörer sei zwischen Helgoland und Cuxhaven auf eine Treibmine aufgefahren. Die Hälfte der Besatzung fiel der Explosion selbst zum Opfer, die andere Hälfte wurde zum Teil noch schwimmend geborgen, und zwar durch ein zufällig vorbeikreuzendes Schulschiff.

Unter diesen in letzter Minute Geretteten befand sich auch ein gewisser Leichtmatrose namens Max Ziehlke, der, kaum ins Trockene gebracht, einer tiefen Bewußtlosigkeit verfiel. Diese vollständige Apathie und Schockwirkung war so kräftig, daß er noch im Lazarett in Berlin eine Woche nachher in tiefem Schlafe lag. Man hatte seine Eltern noch nicht verständigt, da deren Besuch zunächst völlig zwecklos schien.


Turgenev, Ivan Sergejevich

Faust: Erzählung in neun Briefen

- M., den 10. August -

Inzwischen hatte sich der Wind recht erhoben, die Wellen gingen hoch, das Boot kam ins Schaukeln; die Schwalben streiften dicht neben uns über dem Wasser hin. Wir zogen das Segel ein und begannen zu lavieren. Plötzlich schlug der Wind heftig um, es gelang uns nicht, den jähen Stoß zu parieren – eine Woge schlug über Bord, und wir hatten viel Wasser im Boot. Bei dieser Gelegenheit entwickelte der alte Deutsche eine wahrhaft jugendliche Kraft und Gewandtheit. Er riß den Strick aus meiner Hand und stellte das Segel kunstgerecht mit den Worten: »So macht man's in Cuxhaven.«


Willkomm, Ernst

Reeder und Matrose

- 34 -

»Wo bin ich?« fragte Don Alonso Gomez, als er nach kurzer Besinnungslosigkeit wieder zu sich kam und die Augen aufschlug. Er erhielt keine Antwort, aber er fühlte, daß er auf feuchtem Stroh im Augenblick wenigstens sicher liege. Ein Tau war um seinen Leib geschlungen und an einem Balken des zum Teil durchbrochenen Dachstuhles befestigt. Etwa zehn Schritte von sich entfernt sah der Mexikaner zwei Männer, von denen jeder eine lange Stange hielt. Beide sahen aufmerksam auf den Strom und dessen Bewegung. Näher als diese beiden Männer, aber auf der andern Hälfte des schwimmenden Daches, saßen ebenfalls zwei Männer rittlings auf dem First, bewaffnet wie jene und ebenso aufmerksam den Strom und die Flut beobachtend. Diese rief Don Alonso Gomez jetzt mit vernehmlichen Worten an.

»Sie sind gerettet, Herr, wie Sie sehen«, versetzte der Größte derselben, ein alter Mann in Bauerntracht. »Wenn Sie stark genug sind, um eine schwere Stange zu regieren, so können Sie unser Schiff mit steuern helfen. Da unten liegen noch ein paar solcher Stecken.«

Der Bauer deutete auf das Loch im Dach, aus dem die seltsamen Schiffer ohne Zweifel auf den First gestiegen waren.

»Soll ich euch helfen«, erwiderte der Mexikaner, »so befreit mich erst von diesem Tau. Es drückt mich ohnehin ziemlich unsanft.«

»Ja so«, sagte der Bauer, ritt, mit den Händen sich vorwärts schiebend, während er seine Stange dem Gefährten reichte, zu dem Gebundenen und löste den Knoten. »Was sind Sie denn eigentlich für ein Landsmann? Sie kommen mir etwas stark ausländisch vor.«

»Das mag wohl sein«, erwiderte Don Gomez. »Mich überraschte die Flut drüben, unfern Blankenese, mein Pferd wurde scheu und warf mich ab. Dann trieben die Wellen mich fort. Mein Diener ist bei dem Spaß ums Leben gekommen.«

Der trockne Bauer maß den Sprechenden mit einem ernsten Blick.

»Na, den Spaß können wir allesamt auch noch erleben. Der Zufall hat Sie auf mein Eigentum geführt, Sie sind also mein Gast. Machen Sie's nun wie die Herren dort am andern Ende, die auch meine Gäste sind. Vielleicht haben wir zusammen Glück und treiben mit der Ebbe irgendwo an einer Insel an. Dann wollen wir uns gegenseitig für geleistete Dienste bedanken.«

»Das ist also Euer Hausdach?« fragte Don Gomez, den jetzt dies Abenteuer trotz der augenscheinlichen Gefahr, in der er sich befand, zu amüsieren anfing. Es war in der Tat eine seltsame Situation und eben deshalb behagte sie gewissermaßen dem nach Neuem stets lüsternen Mexikaner.

»Es ist der Rest meines Hauses«, versetzte kalt und resigniert der alte Bauer. »Noch vor acht Stunden galt es für den schönsten Sandkrug im ganzen Alten Lande. Jetzt ist's ein loses Gebälk, das eine einzige hohe Welle oder ein harter Windstoß zerschlagen kann.«

Don Gomez erlaubte sich noch einige Fragen, aus deren schlichter Beantwortung er erfuhr, daß die Wohnung des alten Mannes außerhalb des Deiches gelegen habe und ein Fährhaus gewesen sei, wo häufig Reisende einkehrten, die nach dem nördlichen Elbufer übersetzen wollten. Die beiden Männer auf dem hintern Giebel seien solche Reisende, erklärte der Krughalter. Sie hätten schon Mittags über den Strom gewollt, des starken Windes wegen aber die Überfahrt nicht gewagt, da namentlich der eine, der Seemann sei, das Unternehmen gefährlich gefunden habe. Darauf hätten sie sich entschlossen, besseres Wetter abzuwarten, als unvorbereitet der Nordweststurm die Flut zu Bergen aufgetürmt, die dünnen Backsteinmauern seines Hauses zerschlagen und das Dach, wohin sie alle geflüchtet, fortgerissen hätte.

»Ein Kind, ein liebes Mädchen trieb ans Land«, schloß der Bauer seine kurze Erzählung. »Ich hoffe, Gott läßt sie am Leben, und rettet er auch uns, so seh' ich sie wohl nach ein paar Tagen wieder.«

Der Sturm hatte etwas nachgelassen, die Wogen gingen weniger hoch und es machte sich eine rückgängige Bewegung der Strömung bemerkbar.

»Ebbe!« rief einer der Männer, welche der Bauer als Reisende bezeichnet hatte. Gleichzeitig bewegte sich das treibende Dach stromabwärts.

Beim Klang dieser Stimme horchte Don Gomez erschrocken auf. Sein langes, feuchtes Haar, das der Wind beinahe getrocknet hatte, vollends aus der Stirn streichend, heftete er seine dunkeln Augen auf die beiden Männer, deren Gesichtszüge ihn das nächtliche Dunkel nicht erkennen ließ. Er griff in das Stroh des Daches und näherte sich kriechend den am Giebelende Hockenden. Da sah er ein Gesicht über sich, vor dem er erbebte. Er starrte es an, wie ein Geist, regungslos, kalt, boshaft. Das Erkennen war gegenseitig.

»Don Gomez!« – »Miguel!« tönte es von beider Lippen und gleich darauf klammerten sich die Hände der beiden Feinde wie die Krallen wütender Tiger ineinander, und es begann auf dem schwimmenden, zitternden Dach, über den gurgelnden Wasserstrudeln ein Ringen, dem die andern drei Bewohner des gebrechlichen Gerüstes mit starrem Entsetzen zusahen. Die Kämpfenden mußten ihre Kräfte sitzend erproben, da zu einem Faustkampf im Stehen kein Raum vorhanden war. Keiner sprach ein Wort, nur pfeifende, kurze scharfe Töne entrangen sich bald Miguels Brust, bald der des Mexikaners. Zum Glück fehlten den erbitterten Gegnern scharfe Waffen. Nur die Faust, die Gelenkigkeit der Glieder, die Kraft der Muskeln, ein Stoß, ein wilder, hastiger Griff konnten entscheiden.

Don Alonso Gomez übertraf Miguel an Körperkraft, dieser dagegen war gelenkiger und hatte vor seinem Gegner die Übung, auf schwanken, schwindligen Stegen glücklich und sicher zu balanzieren, voraus. Auch waren seine Kräfte nicht so erschöpft, wie die des Mexikaners. Der Kampf währte daher nur wenige Minuten, dann brach Don Gomez unter einem kräftigen Faustschlag Miguels zusammen. Dieser wiederholte den Schlag in der Raserei des Zornes, erfaßte den Mexikaner am Gürtel und hätte ihn erbarmungslos kopfüber in den wütenden Strom gestoßen, wäre dieser übereilten Handlung nicht die Hand eines Dritten zuvorgekommen.

»Keinen Mord, Miguel!« sprach ernst, befehlend Eduard Heidenfrei. »Du bist Sieger geblieben, der Überwundene wird sich den Bedingungen unterwerfen, die wir ihm, angesichts des sichern Todes, zu dem wir ihn verurteilen können, diktieren wollen. Laß mich Richter sein, Miguel, und mein Wort als Deutscher darauf, das Urteil, das ich fälle, soll deinen Beifall haben. Erkennen auch Sie mich für Ihren Richter an, Don Alonso Gomez?«

Der Mexikaner röchelte und stöhnte unter der würgenden Hand des von ihm so lange mißhandelten Miguel.

»Endigt«, stammelte er heiser. »Ermordet mich, nur zwingt mich nicht, lange Eure mir verhaßten Gesichter sehen zu müssen!«

»Sie haben Freiheit, uns den Rücken zukehren zu dürfen«, erwiderte Eduard. »Wir sind keineswegs gesonnen, uns an dem Anblick eines Wehrlosen zu weiden. Wir haben Sie gemieden, Don Gomez, seit Ihr Charakter uns durch Zufall enthüllt wurde. Wir suchten Sie nicht und würden Sie nie wieder aufgesucht haben. Gott gibt Sie uns jetzt in die Hände, und ein Gottesgericht soll entscheiden zwischen Ihnen und uns. Sehen Sie um sich, wir treiben augenblicklich ohne Hoffnung auf Rettung dem Meere zu. Noch tobt der Strom, noch hat der Sturm nicht ausgerast. Mit der nächsten Flut kann ein neues Wetter über uns kommen und die Hand des Allmächtigen, die uns bis jetzt so wunderbar schirmte, kann uns in die brausende Tiefe versenken. Ist dies Schicksal über uns verhängt, so werden wir ihm nicht entgehen. Es wäre aber auch möglich, daß ein glückliches Ungefähr uns einem aufsegelnden Schiff entgegenführt, dessen Besatzung uns aufnimmt. In diesem Fall sollen Sie nicht mit uns zurückkehren, sondern am ersten, besten Küstenort ausgesetzt und dem dortigen Voigt zur Verwahrung übergeben werden, bis Sie von Hamburg aus weitere Befehle erhalten, die Sie in Ihr Vaterland zurückweisen. Geschieht auch dies nicht, sondern wäre es uns bestimmt, rettungslos auf dem Wasser herumtreiben zu müssen, bis die Wellen den letzten Balken dieses Dachstuhles zerschlagen haben oder bis uns der Hungertod bedroht, so machen Sie den Übrigen durch einen freiwilligen Tod zuerst Platz, damit der dürftige Rest von Lebensmitteln, die wir besitzen, noch kurze Zeit länger ausreicht. Wir sterben demnach freiwillig in folgender Ordnung: zuerst Sie, dann ich, zuletzt Miguel. Als Fremdlinge, die wir die Gastfreiheit dieser wackern Leute genießen, ist es unsere Pflicht, alle Gefahren mit ihnen zu teilen, nicht aber, ihnen den letzten Bissen Brot vom Munde zu reißen. Fügen Sie sich?«

Don Gomez stöhnte wie ein Sterbender.

»Füge dich oder du stirbst!« rief ihm Miguel zu. »Du hast keine andere Wahl und sollst keine haben.«

»Es sei!« stammelte der Besiegte, die Hoffnung möglicher Rettung als einzigen Anker festhaltend.

»Laß ihn frei, Miguel!« sprach Eduard. »Er wird diesmal sein Wort nicht brechen. Dieser Himmel und dieser brüllende Strom sind uns zuverlässige Wächter.«

Es begann nun eine Zeit traurigen Zusammenlebens. Der Dachstuhl wurde von der Ebbe rasch vorwärts getrieben, sodaß die Fortgeschwemmten sich bei dem Wiedereintritt der Flut schon unterhalb Glückstadt befanden. Nirgends zeigte sich ein aufsegelndes Schiff, nur kleine Boote wurden an den fernen Ufern sichtbar. Das Dach trieb immer mit dem stärksten Strom, ließ sich nicht steuern und konnte deshalb dem Lande nicht näher gebracht werden.

Die Bewohner desselben verfielen in trübe Stimmung, die sich bedeutend steigerte, als man erkannte, daß auch die zweite Nacht sie auf dem unwirtlichen Strom überraschen würde, ehe irgendein Mensch ihrer ansichtig wurde. Mit Mühe befestigten die Unglücklichen eine Stange im Stroh und banden an die Spitze derselben ein Notzeichen.

Zweimal flutete und ebbte das Meer und noch immer harrten die fünf Männer vergebens auf Rettung. In der dritten Flutzeit war das Hausdach nahe Cuxhaven und die Aussicht auf Rettung verlor sich mehr und mehr.

Bis jetzt hatte Don Gomez sich ruhig verhalten. Er genoß schweigend, was der alte Bauer ihm reichte, den Anblick Miguels und Eduards suchte er zu vermeiden. Nun aber trat bereits der verhängnisvolle Augenblick ein, wo die Nahrungsmittel zu Ende gingen und man voraus berechnen konnte, daß schon nach vierundzwanzig Stunden die Schreckensherrschaft des Hungers beginnen werde. Durst litten sie nicht, denn es fiel hinlänglich Regen, den die Männer in ihren Südwestern auffingen.

Außer dem drohenden Hunger lauerte aber noch eine andere Gefahr. Das Gebälk des Daches, von den Wogen umbraust, wurde lebendig. Es knackte und ächzte in allen Fugen, es zog und dehnte sich und je höher und länger die Wogen rollten, desto lockerer gestaltete sich der Bau. Es bedurfte nur einer starken Bö, einiger heftiger Wellenschläge, und das ganze kaum noch zusammenhängende Gerüst löste sich in viele einzelne Teile auf und das Gottesgericht war vollzogen. Alle sahen voraus, daß beim Hinausschwimmen auf das Meer nur Stücke und Splitter davon übrig sein würden.

»Es ist Zeit«, sprach Miguel finster, als sie am zweiten Abend den Leuchtturm von Cuxhaven schon hinter sich liegen sahen. »Wir haben nur noch für zwei Personen eine halbe Ration Brot. Laßt uns beten und dann den Ersten von uns in den Wogen begraben.«

Don Gomez blickte wild auf und lächelte.

»Begrabt mich, wenn Ihr könnt«, versetzte er, »freiwillig ersäufe ich mich nicht! Sterben müssen wir alle, das weiß ich, und ich bin auch ganz damit zufrieden, nur würden mir die letzten Lebensmomente versüßt werden, könnten wir die Reise in jenes unbekannte Land in brüderlicher Gemeinschaft antreten. Mann gegen Mann, wenn's beliebt! Wir stehen. mein' ich, hier alle außer dem Gesetz!«

Der alte Bauer und dessen Sohn würden zu jeder andern Zeit als Vermittler aufgetreten sein, jetzt achteten beide nicht auf den Streit ihrer Gefährten, denn der Hunger wühlte in ihren Eingeweiden und die Verzweiflung machte alles vor ihren Augen flirren.

Don Gomez näherte sich Miguel – schon erhob er die Hand gegen den Nebenbuhler – da rief Eduard jubelnd aus:

»Ein Segel! Ein Segel auf unserm Kurs!«

Die erhobene Hand des Mexikaners sank wie gelähmt auf das zerstampfte, vom Sturmwind zerzauste Strohdach, dessen Balkengerüst eingesunken war, so daß es jetzt nur noch wie ein großer Schirm auf den Wogen forttrieb. Alle sahen auf, konnten aber mit Ausschluß des weitsichtigen Miguel nichts erkennen. Der weißliche Schimmer, der am äußersten Rande des Horizonts sichtbar wurde, konnte auch der weiße Schaumkamm einer springenden Welle sein. Eduard behauptete jedoch sehr bestimmt, ein Segel zu erblicken und nach Verlauf weniger Minuten stimmten nicht nur Miguel, sondern auch der Bauer und dessen Sohn ihm bei. Der nagende Hunger war vergessen, denn jeder hoffte, jeder glaubte wieder an Rettung!

Don Alonso Gomez frohlockte im Stillen. Seine bis dahin finstern, verbissenen Züge wurden sanfter, fast freundlich. Es war, man sah es, plötzlich eine große Änderung in ihm vorgegangen. Er gab jeden Gedanken an Kampf auf, blickte sich heiter um und bot dem Gegner seine Hand zur Versöhnung.

Miguel wollte seinen Ohren nicht trauen, aber er konnte nicht lange im Ungewissen bleiben. Mit einem bittenden, aufrichtig flehenden Blick sah Don Gomez ihn an und streckte seine Hand nach ihm aus.

»Ich bin nicht so verwahrlost, so böse und unversöhnlich, wie du meinst«, sagte er zu dem unschlüssigen Miguel. »Leichtsinnig nur war ich immer, und weil ich alle Freuden des Lebens durchkosten, kein Glück, keinen Genuß mir entgehen lassen wollte, irrte und fehlte ich häufig. Ich habe dich beleidigt, erzürnt, mir zum Feinde gemacht, darum hast du ein Recht, mich zu hassen. Aber was ich gegen dich und Christine verbrochen habe, habe ich auch, obwohl mehr gezwungen, als freiwillig, bereits wieder gesühnt. Nun führt uns ein wundersames Schicksal in der furchtbarsten Bedrängnis, in welche Menschen kommen können, zusammen; wir sehen, als Feinde nebeneinander hockend, zwei volle Tage dem Tode hundertmal entgegen. Wir sterben Glied für Glied, wir dulden gemeinschaftlich alle Qualen der entsetzlichsten Einbildungen! Wir rüsten uns schon, den Tod zu empfangen, zu umarmen: da glänzt ein neuer Rettungsstern und gießt neues Lebenslicht in unser Auge, netzt unsere schon verschmachtenden Lippen mit neuem Hoffnungstau! Sollen wir jetzt noch hadern mit einander im Angesicht der Gnade des Himmels? Ich kann's nicht, bei dem Wunderbild der allerheiligsten Madonna! Die Härte meines Herzens weicht der Milde, die Lust nach Rache dem Drang der Versöhnung. Seid mir Freunde und Brüder und laßt uns in dem Moment, wo schon das Tau geschwungen wird, das uns wieder ans Land hissen soll, Frieden schließen für ewige Zeiten!«

Miguel blickte noch einmal hinaus auf das graue unbegrenzte Meer, an dessen wogendem Horizont jetzt immer deutlicher das Segel zu erkennen war. Dann sah er dem Mexikaner wieder in das männlich schöne, ausdrucksvolle Gesicht. Ein dritter Blick fiel auf das immer tiefer einsinkende Strohdach, dessen schadhafte Stellen von den schäumenden Wellen in jeder Minute mehr litten.

Schon neigte sich die Sonne dem Untergang zu, die finstere Wolkenwand mit falben Lichtstrahlen durchbrechend. Rechts und links war kein Land mehr zu sehen, nur weißer, rollender, bisweilen hochaufspritzender Schaum bezeichnete die gefährlichen breiten Sande in der Mündung der Elbe.

»Gib Friede!« sagte nochmals in mild bittendem Ton der Mexikaner und seine Hand legte sich auf die Schultern Miguels. Dieser zauderte noch. Eduard erhob mit beiden Händen die Stange mit dem daran befestigten Notzeichen. Er schwenkte sie hin und wieder in der Luft, und ein blendend heller Sonnenstrahl beleuchtete das zerbröckelnde Floß mit der Gruppe der verlassenen Männer. Dann hüllte sich alles wieder in graue, dunstige Nebelatmosphäre.

Da zeigte sich, über die Segel aufwirbelnd, ein weißer Rauch, gleich darauf rollte dumpfer Geschützdonner über das Meer.

»Wir sind entdeckt! Wir sind gerettet!« jubelte Eduard, noch einmal die Stange mit dem Notzeichen hoch in die Luft emporhebend. Ein zweiter Schuß dröhnte über die Wogen.

»Gerettet!« wiederholte Miguel. »Gott will uns wohl, wir sollen nicht verderben. So sei denn auch heute dir vergeben, was du an mir verbrochen hast. Werde mir fortan Freund, wie du mir bisher Feind gewesen bist!«

Die Hand Miguels lag in der des Mexikaners. Dieser riß den Versöhnten an sein Herz und umarmte ihn stürmisch. Ein dritter Schuß hallte und besiegelte das feierliche Bündnis zweier Menschen, die das Glück getrennt und verfeindet hatte, die Todesnot aber zu Freunden machte.

- - - - -

Immer höher gingen die Wogen, jetzt rollende Hügelreihen, jetzt wieder breite, tiefe Talsenkungen bildend. Tümmler überschlugen sich mit ihren plumpen Körpern in aufstrudelnden Wellenkämmen und eine Schar Möwen umkreiste die Überreste des Daches, auf dessen noch lose zusammenhängenden Sparren die fünf Männer mit jeder Sekunde weiter in die Nordsee hinaustrieben.

Es wurde dunkel. Nebel breiteten sich über die öde, endlose Wasserwüste. Am Himmel blickte da und dort durch fliegendes Gewölk ein Stern, auch die Mondscheibe wob ungewisse Dämmerungshelle um dichte schwarze Haufenwolken. Dann streute sie wieder silberne Flocken auf das Meer oder ein auffallend heller Strahl traf die bauschigen Segel des Schiffes, das ruhig seinen Kurs steuerte. In längeren Pausen fiel ein Schuß, und konnten die Fortgetriebenen ihr unlenksames Floß auch dieser rufenden Stimme nicht folgen lassen, so deutete sie ihnen doch an, daß Freunde sich näherten und daß auf dem Top ein scharfes Auge nach ihnen ausblicken müsse.

Endlich sahen die Treibenden den Rumpf des Schiffes, hörten ihr Rufen von menschlichen Stimmen beantwortet. Noch vergingen einige Minuten, dann vernahm Miguel das Kommando des Kapitäns. Langsam drehte sich der schwarze Rumpf. Dann sank das Langboot aufs Meer, drei, vier Männer bestiegen es, das Schiff drehte ab und kräftige Ruderschläge trieben das Boot über die gipfelnde Flut.

Bald war das Fahrzeug dem Floß so nahe, daß dessen Bewohnern ein paar Taue zugeworfen werden konnten. Die Schiffbrüchigen erfaßten diese, schlangen sie fest um die Balkenstümpfe und holten das Rettungsboot an.

Zum Sprechen, zum Erkundigen war in diesem Augenblick keine Zeit. Der Mann, welcher das Boot steuerte, ermahnte zur Eile, denn schon wehte es wieder stärker und die Wolkenbildung am Kimming deutete auf nahende Windstöße. Die Männer auf dem zerbrechenden Gebälk fühlten noch weniger Bedürfnis zum Sprechen. Alle drängten dem Rettungsboot zu, und ihr allzu hastiges Anklammern an ein und dasselbe Tauende hätte das kleine Fahrzeug beinahe zum Kentern gebracht. Die Stimme des Steuernden scheuchte die Geängsteten nochmals mit hartem Wort zurück, gab dem Boot eine andere Richtung und nun erst wurden alle fünf Männer einer nach dem andern an Bord gehißt. Kaum hatte der Letzte – es war Don Alonso Gomez, der eigensinnig darauf bestand, bis zuletzt auszuharren – das Gebälk verlassen, als eine gewaltige Sturzsee es vollends zerschlug und die Trümmer nach verschiedenen Richtungen hin forttrieben.

Mit eigentümlichen Empfindungen sahen die Geretteten das Zerbrechen ihres bisherigen Wracks. Inzwischen kamen sie dem Segelschiff schnell näher, das Boot legte an und Eduard betrat zuerst das Deck des Schiffes, über dessen Brüstung neben dem Fallreep der Kapitän auf die Ankommenden herabschaute. Er rief dem Steuernden ein paar Worte zu, die Eduard aufhorchen machten.

»Wie heißt das Schiff?« fragte der vor Hunger, Frost und Ermattung kaum seiner selbst mehr bewußte junge Mann.

»Marie Elisabeth, Kapitän Ohlsen, Reeder Peter Thomas Heidenfrei«, versetzte ein eben vorübergehender Matrose.

»Meines Vaters Bark!« sagte Eduard. »Welch' glücklicher Zufall! Wahrlich, der Name meiner Schwester ist ein glückbringender Name! –«

Die Geretteten fanden auf der Bark Heidenfreis eine Pflege, die sie bald alle erlebten Schrecknisse der letzten Tage vergessen ließ. Selbst daß Don Alonso Gomez sich mit unter den Geretteten befand, störte die Freunde, namentlich Paul, der aus leicht zu erratenden Gründen keine sehr gute Meinung von dem Mexikaner hatte, ihm vielmehr im Herzen grollte, nur in den ersten Augenblicken. Teils die Zureden Eduards und Miguels, teils das bestechende Wesen des ungewöhnlichen Mannes besänftigten schnell die zornigen Aufwallungen Pauls, der Don Gomez wohl schwerlich die Hand geboten haben würde, hätte er ihn früher erkannt.

Alle fünf Geretteten saßen jetzt in der Kajüte des Kapitäns und ließen sich den steifen Grog und das schmackhafte Fleisch wohl schmecken. Kapitän Ohlsen und Paul waren begreiflicherweise äußerst begierig, zu erfahren, welche seltsamen Ereignisse Menschen so verschiedenen Charakters in so verhängnisvollen Augenblicken zusammengeführt haben konnten, und wie diese einander so feindlich Gesinnten den Entschluß, sich zu versöhnen, zu fassen vermochten.

Die Bark war vom Sturm erfaßt, bis hart an die Küsten Jütlands verschlagen worden und hatte dabei zwei Matrosen verloren. Stark von Bau, mit tüchtigem, seegewohnten Volk bemannt, trefflich geführt und gesteuert, überstand sie den verwüstenden Sturm glücklich. Wetter und Flut waren auf hoher See viel weniger gefahrvoll, als an den Küsten. Die anhaltende Richtung des Windes und ein Zusammentreffen verschiedener ungünstiger Umstände brachten jenes große Unglück über die Küstenanwohner und die Bevölkerung der Halligen, welche von allen Flutverheerungen des neunzehnten Jahrhunderts die Sturmflut des zweiundzwanzigsten Februar als die verhängnisvollste bezeichnet. Spuren dieser Verwüstung hatte die Bark auf ihrer Fahrt nach der Mündung der Elbe entdeckt. Es war das erste Schiff, welches eine dunkle Kunde davon ans Festland brachte.

Diesen Mitteilungen schlossen sich die Erzählungen Eduard Heidenfreis und seines Vetters Miguel an. Beide junge Männer hatten zwei Tage vor dem bösen Unwetter Bremen verlassen, wo Augustin Hohenfels allein zurückblieb, um noch einiges zu ordnen und die nötigen Vorkehrungen zur Reise nach Südamerika zu treffen. Das Haus Heidenfrei zog es vor, um den Wünschen Hohenfels' möglichst nachzugeben, ein Bremer Schiff zu chartern, da die ihm zu Gebote stehenden eigenen Fahrzeuge, mit Ausnahme eines einzigen, nicht mehr ganz seetüchtigen Schoners, auf See waren. Zu diesem Entschluß trugen wesentlich auch die Verbindungen bei, welche der verstorbene Saldanha mit Bremen in früherer Zeit durch Vermittlung holländischer Bankiers eingegangen war. Alle diese früheren Geschäftsfreunde des reichen Kubaners kannten genau dessen Verhältnisse; die Verbindungen des ehemaligen Plantagenbesitzers konzentrierten sich in der Handelsmetropole an der Weser, und so fand von dort aus das neue eigentümliche Unternehmen des ideenreichen, weitstrebenden Hohenfels die geeignetste und sicherste Förderung.

Um nicht den langweiligen Weg über die uninteressante Heidefläche in kurzer Zeit wieder zurücklegen zu müssen, die namentlich Eduard zu genau kannte, zogen es die jungen Männer vor, von der großen Heerstraße abzubiegen, einen links führenden Kommunikationsweg einzuschlagen und dem ›Alten Lande‹ einen Besuch abzustatten. Erlaubte es die Witterung, die sich freilich schon zur Zeit ihrer Abreise aus Bremen ungünstig anließ, wollten sie in Stade einsprechen, wo das Haus Heidenfrei ebenfalls Verbindungen hatte. Dieser letzte Plan mußte aber aufgegeben werden. Die Reisenden ließen ihr gemietetes Fuhrwerk in Buxtehude, wanderten zu Fuß weiter und wollten über die Elbe nach Blankenese. Das Bedenken der Schiffer, welche über den inzwischen bereits sehr unruhig gewordenen Wind die schlimmsten Ansichten äußerten und sich entschieden weigerten, bei den gefährlichen Windstößen über den Strom zu setzen, machte auch Miguel bedenklich. Der Wirt des Kruges gesellte sich zu den Beratenden und da auch dieser, der ein sehr ruhiger, alter Mann zu sein schien, ebenfalls den Schiffern beistimmte, so nahmen die Reisenden den Vorschlag des Krugwirtes an, so lange bei ihm zu rasten, bis das Wetter ausgetobt haben würde.

Endlich versuchte der alte Bauer den Anprall der Sturmflut, ihr unerwartet schnelles Wachsen und die Bestürzung zu schildern, die alle ergriff, als die wilden Wasser bei sinkender Nacht von allen Seiten um die schutzlosen Mauern seines Hauses zusammenschlugen, den ganzen Hausrat verwüsteten und fortschwemmten und ihn nebst seinen beiden Kindern und den Reisenden zu eiliger Flucht auf den Boden des Daches nötigten.

»Ich hätte nie geglaubt«, schloß der alte Krughalter seinen Bericht, »daß Ständer, die über vierzig Jahre jedem Wasser trotzten, von zwei, drei schlagenden Wellen zerbrochen werden könnten. Und wie nun gar das Dach fortschurrte, sich auf den Wellen wiegte, in den wütenden Strom hineinschoß, und die Tochter mir verloren ging; da hätte ich mich am liebsten selber kopfüber in das brodelnde Flutwasser gestürzt, um dem Elend mit einem Male für immer überhoben zu sein. Die Herren aber hielten mich zurück und nun danke ich ihnen, daß sie es taten, denn ich denke jetzt doch, meine ans Land zurückgetriebene Tochter wiederzusehen.«

Er reichte Eduard und Miguel seine harte, breite Hand, die den Druck derselben herzlich erwiderten.

Unter diesem gegenseitigen Austausch der jüngsten Erlebnisse erreichte die Bark die Höhe von Neuwerk. Die Leuchtfeuer des großen und kleinen Turmes, ebenso das hell glänzende Licht von Cuxhaven warfen ihre Strahlen durch die wolkentrübe Nacht auf die grauen, langen Wogenkämme der hochgehenden See.

»Das ist beinahe ein Anblick, wie damals, als wir zum ersten Mal die rote Tonne passierten«, sprach Don Alonso Gomez zu Miguel, der mit dem versöhnten Feinde jetzt das Verdeck auf und abschritt. »Nur war die Luft damals milder und ich war besser bei Kasse, als ich es gegenwärtig bin.«

»Und das sprichst du so leichthin aus, ohne Reue zu fühlen?« versetzte Miguel.

»Reue mag gut sein, denn sie soll ja, wie die Pfaffen behaupten, zur Erkenntnis und mithin zur Besserung führen. Dennoch will mich bedünken, taugt sie nicht für jeden. Wie es kommt, wissen die Heiligen, aber ich kann nichts bereuen, nicht einmal, daß ich den gewiß dummen Streich mit deiner schönen Braut beging, die ich dir übrigens, nimm mirs nicht übel, bis auf den heutigen Tag mißgönne. Wäre ich nicht ein so leichtblütiger Patron, ich glaube doch, bei diesem herrlichen Mädchen hätte ich glücklicher mit dir gerungen, als auf dem schlüpfrigen, moosbewachsenen Strohdach des alten Krugbauers. Es hat nicht sein sollen, mithin bin ich beruhigt. Die einzige wichtige Frage, die ich jetzt an mich richten muß, und die mich auch wirklich schon ganz ernsthaft beschäftigt, ist: woher nehme ich Geld, um zu leben, um mich zu halten und durch weise Sparsamkeit und kluges Haushalten meine in Unordnung gekommenen Verhältnisse wieder zu verbessern? Ich wüßte ein Mittel, nur weiß ich leider nicht, ob es anwendbar sein wird.«

»Welches meinst du?« fragte Miguel, der mit steigender Teilnahme dem harmlos Plaudernden zuhörte, dessen Gemütsruhe ihm imponierte.

»Du könntest mir helfen.«

»Ich?«

»Ganz gewiß. Das wäre nicht nur sehr edelmütig, sondern auch verdienstlich, und gleichzeitig bewiesest du mir damit, daß deine Aussöhnung ehrlich gemeint ist, dein Haß sich in wirkliche Freundschaft verwandelt hat.«

»Aber ich begreife wahrhaftig nicht, wie ich dir helfen soll«, erwiderte Miguel. »Bare Mittel besitze ich augenblicklich nicht. Ich habe darüber disponiert, um die großen Pläne meines Vaters und Vetters fördern zu helfen. Und ich kann mir denken, daß dir mit einer Kleinigkeit nicht gedient sein wird.«

»Das ist dumm«, sagte Don Gomez, »und dennoch wäre es möglich.«

»Ich sehe keine Hilfe.«

Der Mexikaner ergriff Miguels Arm und trat mit ihm an den Besanmast.

»Ich sehe ein«, fuhr er fort, »daß ich in der europäischen Gesellschaft meinen Kredit verscherzt habe. Es gehört das zu den vielen Dingen, die sich nicht ändern lassen, die andern Qual verursachen, die ich dagegen für ein Schicksal hinnehme. Wozu soll ich mich nun noch länger auf europäischem Boden herumtreiben? Ich weiß im voraus, daß ich zwar manchen Genuß und dennoch wenig Freude davon haben würde. Also fort von der alten Welt, deren Solidität ich vollkommen respektiere, und deren liebreizende Töchter ich in der Erinnerung lieben, verehren, anbeten will, so lange mein Herz klopft und meine gottlose Zunge noch Schmeicheleien in hübsche Wortsträuße zu binden versteht! Die neue Welt, unsere Heimat, steht meinem abenteuerlichen Sinn ohne alle Frage besser an. Und daß ich dort fortkomme und wieder fester Grund sich unter meine Füße schiebt, dazu sollst du mir behilflich sein.«

»Erkläre dich deutlicher, denn noch sprichst du für mich in Rätseln«, versetzte Miguel.

»Du bist Besitzer reicher Kaffee- und Tabaksplantagen. Ein beneidenswertes Glück hat sie dir geschenkt. Du läßt sie, wie ich in Erfahrung gebracht habe, verwalten von Leuten, die du selbst nicht kennst, denen du aber vertraust, weil sie Diener des Mannes waren, der dich an Sohnes Statt angenommen hat. Meinst du nicht, daß ein Freund, der früher auch auf Plantagen lebte, der mit Sklaven umzugehen weiß, der selbst noch Sklaven- und Plantagenbesitzer ist, obwohl ein Jude sie als Pfand in seinem weiten Säckel mit sich herumschleppt, meinst du nicht, daß ein solcher Mann dir ebenso treu dienen kann, als bezahlte Söldlinge es tun? Mache mich zum Generalinspektor deiner Plantagen auf Kuba, besolde mich anständig, gib mir eine gute Provision, wie die Kaufleute sagen, und laß mich etwas Rechtes dabei verdienen. Bei meiner früheren Nichtsnutzigkeit verspreche ich dir, ehrlicher und gewissenhafter hat der alte Hausnarr deines sehr respektablen Herrn Oheim seinerzeit die Buchführung nicht getrieben, als ich sie in deinem Namen und in deiner Abwesenheit handhaben will.«

Miguel konnte sich eines Lächelns über die Ernsthaftigkeit dieser Beteuerung nicht enthalten.

»Ja, du lachst«, fuhr der Mexikaner fort, »und dennoch beharre ich auf meinem Satz. Meinst du etwa, ich würde mich schlecht für einen derartigen Posten eignen? Du irrst, mein Freund! Es gibt keine besseren Diebsfänger als Leute, die früher etwas konfuse Ansichten von dem Begriff Eigentum hatten. Betrügen lasse ich mich nicht, und sollte ich dich betrügen, so sei es dir freigestellt, mich zu behandeln, wie es dir beliebt.«

»Du sprachst von einem Juden, dem du deine Besitzungen in Texas verpfändet hättest«, warf Miguel ein. »Wer ist der Mann, und wie hoch beläuft sich die darauf erhaltene Summe?«

Don Alonso nannte den Namen des hilfreichen Israeliten und die Höhe des von ihm erhaltenen Geldvorschusses.

»Zu unterhandeln ist mit dem Mann«, sprach Miguel, »denn er verdient gern. Wir haben dies, meine ich, beide kennen gelernt. Laß mir Zeit, Alonso, und warten wir vorerst ab, wie meine Verwandten darüber denken. Du wirst mich zu keiner Übereilung veranlassen wollen, die uns beiden nur Schaden verursachen könnte. Vorerst hast du bei mir offene Kasse, deinen Vorschlag werde ich, ist er ernst gemeint, in Überlegung ziehen.«

»Er ist es«, sagte Don Gomez mit festem Ton.

»Halb Steuerbord!« rief der Lotse.

Eduard trat in Begleitung des Kapitäns und Pauls aus der Kajüte. Hinter dem Seedeich rechts konnte man dunkel die Häuser Cuxhavens, etwas entfernter das breite, turmartige Schloß Ritzebüttel mit seinem hohen spitzen Dach erkennen.

»Geit die Segel auf!« befahl der Lotse, und bald verschwand alle Leinwand, welche die Bark noch zeigte, an den Raaen. Das Schiff wiegte sich langsam auf den hohen breiten Wellen.

Der nächste Befehl lautete, den Anker fallen zu lassen.

Die Kette klirrte, der Anker rollte in die Tiefe und faßte bald in den sandigen Grund.

Die ›Marie Elisabeth‹ lag, von leichter Brise geschaukelt, auf der Reede von Cuxhaven.